Vorwort zur deutschen Werkausgabe Francesco Algarottis

Francesco Algarotti (1712–1764) – Ein philosophischer Hofmann im Jahrhundert der Aufklärung / Un cortigiano filosofico nell’età dell’illuminismo

Die vorliegende Werkauswahl ist Ergebnis einer Arbeit, die 1995 mit dem Aufsatz „Kommunikationsformen bei Francesco Algarotti“ initiiert wurde, bei der Übersetzung der „Pensieri diversi“ 1999 Gestalt annahm, worauf dann ab 2000 die übrigen vier Bücher in das Projekt aufgenommen wurden. Versuche, bei den von der Bibliothek von Wolfenbüttel bzw. der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft‚ Darmstadt betriebenen Forschungs- bzw. Editionsvorhaben akzeptiert zu werden, scheiterten schon im Ansatz. Um so erfreulicher war es, dass sich Prof. Dr. Günther Lottes, der Direktor des Forschungszentrums Europäische Aufklärung in Potsdam (FEA), umstandslos bereit erklärte, das Vorhaben zu unterstützen.

Am 27. und 28. Oktober 2006 fand ein von Prof. Dr. Brunhilde Wehinger und mir organisiertes Wissenschaftliches Colloquium „Kritik und Kommunikation: Francesco Algarotti – ein philosophischer Hofmann im Zeitalter der Aufklärung“ in der FEA statt. Das Programm ist der Website beigefügt.

Die Vortragssammlung ist in einer von der FEA herausgegebenen Reihe im Jahre 2009 veröffentlicht worden, unter dem Titel „Francesco Algarotti (1712–1764) – Ein philosophischer Hofmann im Jahrhundert der Aufklärung“, herausgegeben von Hans Schumacher und Brunhilde Wehinger, Wehrhahn-Verlag Hannover 2009 (Reihe „Aufklärung und Moderne“).

Jeder kann sich hier nun selbst überzeugen, ob es sich gelohnt hat, einen italienischen Schriftsteller, der zu seinen Lebzeiten trotz einiger Übersetzungen in Deutschland kaum rezipiert wurde, obwohl er „der berühmte Algarotti“ genannt wurde, nach über zwei Jahrhunderten „auszugraben“ und dafür zu werben, ihn wieder zu lesen. Leider gehört die italienische Sprache nicht zu den privilegierten Fächern an der deutschen Schule. Englisch und Französisch bzw. Spanisch gehen vor. Dass Deutsch ebenso wenig Liebhaber in den übrigen europäischen Ländern findet, kann darüber kaum hinwegtrösten. Im 18. Jahrhundert war die Situation anders: Italienischkenntnisse waren zumindest an den Fürstenhöfen nach dem obligaten Französischen vorhanden, und der sich in der Bildenden Kunst, Architektur und Literatur durchsetzende Neoklassizismus setzte nahezu zwingend voraus, dass man in Italien die antiken Vorbilder besuchte und die italienische Sprache beherrschte. Die Romantik, die ihren Namen vom romanischen Süden herleitete, verstärkte die Beziehung noch.
Auch das 19. Jahrhundert pflegte noch die kanonische Bildungsreise ins „Land, wo die Zitronen blüh’n“. Wenn man also darauf aus ist, einen in Deutschland trotz seines 13-jährigen Aufenthalts in Berlin und Dresden völlig vergessenen Italiener ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken, muss man ihn notwendigerweise übersetzen.

Damit hat man zugleich Zugang zu einem faszinierenden, aber ebenfalls schlecht bekannten Kapitel der europäischen Kulturgeschichte, nämlich zu Friedrich dem Großen und seinem Kreis, gefunden. Er hatte kreative, kosmopolitisch gesinnte Persönlichkeiten aus vielen Nationen um sich geschart, Männer, die sich durch ihre wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Leistungen auszeichneten wie Voltaire, d’Argens, Maupertuis, Algarotti, Graun, P. E. Bach und viele andere.

Dank der Wende zum Nationalen bzw. Nationalistischen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog, rückte die Leistung dieser eine gemeinsame europäische Zukunft anvisierenden, aufgeklärten Denker immer weiter aus dem Blickfeld. Für die Darstellung des Geisteslebens unter dem französisch denkenden, sprechenden und schreibenden König fühlten sich die dem deutschen „Volksgeist“ verpflichteten Germanisten nicht zuständig. Dass Friedrich und sein Kreis damit zu einer Angelegenheit der deutschen und französischen Romanisten wurde, war gerade für die Rezeption des Werkes von Algarotti verhängnisvoll. Bis auf die wenig gehaltvolle, im unglücklichen Jahr 1945 erschienene Dissertation von Gertrud Schmitt („Francesco Algarotti und Frankreich“) existierte bis 1996 in Deutschland keine Veröffentlichung über Algarotti als Schriftsteller, ganz zu schweigen davon, dass auch kein einziges Werk von ihm mehr auf Deutsch erschien, während im 18. Jahrhundert doch immerhin ein halbes Dutzend, meist schlecht übersetzt, gedruckt worden war …

Man ist also gezwungen, sich sein eigenes Bild von dieser Persönlichkeit zu machen, deren Werk einen einzigartigen Zugang zu der ganzen komplexen, facettenreichen und problematischen kulturellen Situation am Ursprung der Moderne bietet. Seine umfassende Belesenheit und Bildung, die von den Naturwissenschaften über Geschichtsschreibung, Malerei, Architektur und Dichtung bis hin zu den Autoren der Antike reicht, waren für Friedrich II. Anlass, ihn in der Inschrift auf seinem Grabmal in Pisa als „Schüler Newtons und Nacheiferer Ovids“ zu würdigen.

Das geistige Profil Algarottis ist also durch die Spannung zwischen dem exakten analytischen Denken und der synthetischen dichterischen Phantasie bestimmt. Dieser Gegensatz erklärt auch die von ihm bevorzugten Genres der Epistel, des Briefs, des Essays und des Aphorismus, die in den Nachworten analysiert werden.

Die Vielseitigkeit des Autors macht also sein Werk für Vertreter fast aller Wissenschaftszweige interessant: für Naturwissenschaftler, insbesondere Physiker und den an der Geschichte ihres Faches Interessierten, für Politologen, Historiker, Soziologen, Germanisten, Romanisten (vor allem im Bereich Populärwissenschaft, Aphorismus, Essay, Briefliteratur), Altertumsforscher, Kulturhistoriker, Militärwissenschaftler, Kunsthistoriker (besonders in Hinblick auf Malerei und Architektur), Musikologen (Oper), Philosophen, Linguisten usw.

Für die Kommentare zu den Schriften über Musik und Bildende Kunst sowie Architektur hatte ich ursprünglich vier Experten angeworben, die aber nicht mehr auffindbar waren, als es ernst wurde. Also musste ich mich als Neugermanist in diese Wissensgebiete mehr schlecht als recht einarbeiten; das werden die Experten unter den Lesern berücksichtigen müssen, wenn sie kritische Einwände gegen meine Exegesen haben. Auch bin ich als Rollstuhlfahrer nicht imstande gewesen, mich der Nachschlagewerke in den Berliner Bibliotheken zu bedienen, wenn mich das Internet bei einigen Fußnoten zu weniger bekannten Personen im Stich ließ.

Ich habe versucht, dem Leser, ähnlich wie es die italienischen Herausgeber Ruozzi, Spaggiari und Da Pozzo getan haben (denen ich an dieser Stelle für ihre Vorarbeit danke), das Nachschlagen in Lexika zu ersparen, da Algarotti verschwenderisch mit Namen, Zitaten u. a. umgeht. Es sind also noch einige Lücken geblieben, die der Leser eventuell selbst schließen müsste. (…)

Prof. em. Dr. Hans W. Schumacher
Berlin, im Februar 2011

Abbildung: Francesco Algarotti – Saggio Critico del Triumvirato di Crasso, Pompeo, Cesare — Venezia, 1794